Der Legende nach hatten Ende der Neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts eine Handvoll Randonneure aus der Hamburger Gegend die Idee, an einer der letzten RTFs der Saison im Norden in Berlin-Spandau teilzunehmen. Dazu traf man sich zum Frühstück bei einem alten Radsportfreund in Hamburg-Altengamme, der in einem beschaulichen Häuschen hinterm Elbdeich eine Gastwirtschaft betreibt zum Frühstück um anschließend nach Berlin zu fahren und nächsten Tag die RTF zu absolvieren. Die Anreise erfolgte – für alle Leute, die jetzt den Begriff Randonneur nachgeschlagen haben – natürlich mit dem Rad … 275 Kilometer. Ein oder zwei Jahre später machte man die Idee öffentlich, verpaßte dem Event, vll. um ein paar Racer anzulocken, den markigen Namen Einzel- und Teamzeitfahren Hamburg – Berlin. Die Regeln sind einfach: mit dem Rad nach Berlin-Spandau unter Ansteuerung des einzigen Kontroll- und Versorgungspunkts nach knapp 100 Kilometern in Dömitz im Südwesten Mecklenburgs und zwischen Geesthacht und Dömitz auf der niedersächsischen Elbseite fahren. Für die Streckenfindung ist jeder eigenverantwortlich (dieses Rennen wird von Randonneuren organisiert, nicht von Kindergärtnern …).

Und jetzt beginnt der persönliche Teil: in 2006 bekam ich irgendwie Wind von dem Event, ich glaube ein Kollege von mir, mit dem ich mal eine 110er RTF gefahren bin hat das Thema ausgegraben. Wie diskutierten einige Tage, ob wir uns dafür nicht als Team anmelden wollen bis die Anmeldefrist verstrichen war und nahmen nicht teil. 2007 meldete ich mich allein als Einzelstarter an. Den Sommer über ritt ich noch fünf Radmarathons (220 km) ab, um ein Gefühl für längere Distanzen zu bekommen. Mit drei Radwanderkartenblättern und einem selbst ausgearbeitetem Roadbook ausgestattet machte ich mich morgens halb sieben auf den Weg und erreichte Berlin-Spandau nach rund elf Stunden. 2008 und neun wurde das Rennen mit ähnlichen Ergebnissen wiederholt und in zwanzig-zehn gehört HH-B zum festen Bestandteil der Jahresplanung.

***

Kurz nach der Eröffnung der Anmeldeseite auf audaxclub-sh.de melde ich mich zum Einzelstarter für den 16.10.2010 an, jegliche Diskussionen über einer Teilnahme als Team mit Freunden und Kollegen, die auch Rennrad fahren und auch schon mehr als 200 km an einem Tag runtergespult haben war lange im Vorfeld gescheitert. Ende September und Anfang Oktober, die Zeit, in der man sich mental auf HH-B vorbereitet erstrahle im besten goldenen Herbst, das Wetter am Renntag konnte nur schlechter werden und so sahen die Prognosen dann auch aus: sieben Grad, gefühlt wie drei, bedeckt, Schauer und zwei Tage vorher dann Dauerregen. Schön, dann wird es ja wie in 2009 mit Starkregen bis kurz vor Wittenberge. Den Sonntag vor HH-B wird noch eine kurze, schnelle RTF bei Kiel gefahren, alles fühlt sich gut an.

Dabei war ich wohl zu sommerlich angezogen oder eine der Bazillenschleudern in der Firma ist Schuld: Dienstag bis Donnerstag „grippaler Infekt“ – das volle Programm! Doch Freitag wieder halbwegs auf dem Damm fällt der Entschluß zugunsten der Teilnahme.

Am Renntag ist 02:05 die Nacht vorbei, geschlafen hab ich aber nicht, das junge Pärchen über meiner Wohnung feierte Geburtstag. Nach dem Dreifach-Espresso bin ich auch gleich wach, noch schnell ein Müsli, in Hamburg wird es ja auch noch was zum Frühstück geben. Entgegen der Tradition am Morgen zu packen sind schon alle Utensilien und Wechselsachen für den Tag bereitgestellt. Alle? Nein! Aber das wird sich erst später herausstellen :-/ Das Rad und die restliche Ausrüstung ins Auto geschmissen und bei strömenden Regen Richtung Hamburg-Bergedorf zum P & R Parkhaus am Bahnhof gefahren. Am nördlichen Stadtrand von Hamburg hört der Regen sogar auf und in der Stadt ist alles trocken. Im Parkhaus parken auf der selben Stellfläche wie immer (Biker sind abergläubisch – hatte ich das schon mal erwähnt?). Rad aus dem Kofferraum, eine kleine Fritz-Kola getrunken (Tradition!), Lichtanlage installiert, Radschuhe an, Helm auf, Trinkflaaaschhhh …. eiße!!! hallt es durchs Parkhaus. Ja, die stehen auf der Anrichte in der Küche, ich wollte die ja frisch anrühren … okay, dann eben nur mit den zwei Liter reinem Mineralwasser aus dem Camelbak los, im Nebenfach des Trinkrucksacks befinden sich ja immer zwei bis drei Tüten Iso-Getränkepulvers. An irgendeiner Tanke oder einem Fahrradladen an der Strecke wird schon ein passendes Gefäß zu kaufen sein …

Mit dem Alpencross-Rucksack voll Wechselsachen für Berlin auf dem Rücken und dem Camelbak vorm Bauch rolle ich langsam zum Start am Deich. Eine halbe Stunde später bin ich da und um 05:40 der erste sich anmeldende. Im Wirtshaus hocken schon einige der frühen Starter beim Frühstück, ich greif mir zwei Roggenbrötchen und Marmelade, so richtig großen Hunger hab ich noch gar nicht und spühle die mit zwei Tassen Kaffee runter. Auf dem Flur noch eine Banane im stehen gegessen und dann raus, an den Start. Letztes Jahr kamen wir zu spät los, das soll nicht noch einmal passieren.

Vom Start weg sind nur zwei Leute vor mir, ein Typ in einem verkleideten Liegerad und ein Einzelfahrer. Letzteren überhole ich am ersten Kreisverkehr, er steht am Rand schaut auf der Karte nach, ob er hier abbiegen muß. Mein erster Stopp ist am Ende des Radweges über die Elbbrücke, zwei größere Glassplitter der zerschlagenen Flasche kann ich aus dem Reifen ziehen und in den Minuten danach bleibt der Luftdruck stabil. Glück gehabt. Der Liegeradfahrer ist inzwischen längst in der Dunkelheit verschwunden. Nach 20 km holen mich zwei Einzelfahrer ein und fragen, ob wir im Dunkeln zusammenfahren wollen. Beide sind zum ersten Mal bei HH-B dabei und kennen sich nicht so aus. Bald überholen wir den Liegeradfahrer und sind nun die erste Gruppe. Das Tempo ist für die Länge der Strecke, den frischen Wind von links vorne und die Jahreszeit allgemein zu hoch, aber die beiden werden sich schon beruhigen, denke ich. Nach 50 km wird es ruhiger, vor allem der ältere der beiden hält sich zurück. Zehn Kilometer weiter in den Bergen vor Hitzacker wird das Tempo gemütlich.

Hinter Hitzacker holt uns eine große Gruppe von ca. zwanzig Leuten ein. Ein paar Bekannte treffe ich wieder, so Christian & Niko aus Wesseln, meinen Team-Kollegen von 2009 aus Berlin – Oli – und einen anderen Berliner, der mich noch aus den ersten beiden Jahren kennt, als ich mit dem MTB nach Berlin geprügelt bin. Mit 35 bis 38 heizen wir nach Dömitz. Der Scanner für die Zwischenzeit ist am Kontrollpunkt noch nicht in Betrieb. Später kann ich 09:37 Uhr rekonstruieren – reichlich drei Stunden für knapp 100 km bei Gegenwind und über siebzig davon als Dreiergruppe! Ähnlich schnell war ich 2009 auch, allerdings mit günstigem Wind.

Nach zwei Kaffee und ein paar Salamibroten steige ich Hermann und Michael von Endspurt Hamburg hinterher, die große Gruppe braucht länger bei der Pause und fährt mir zu schnell. Trinkflasche kann ich hier in Dömitz keine erschnorren, also ernsthafte Gedanken, wo man strategisch günstig eine Dreiviertelliter Wasserflasche herbekommt.

Mit Michael und Hermann fahre ich gemütlich bis Wittenberge, hier biegen sie auf ihre Extratour auf das linke Elbufer ab. Vorher holen uns zwei andere aus der großen Gruppe ein und berichten von einem Sturz in Dömitz mit mehreren Beteiligten.

In einem Supermarkt in Wittenberge kann ich endlich einkaufen, Gruppe habe ich keine mehr und muß dringend was Isotonisches trinken, denn die ersten Ermüdungserscheinungen diesbezüglich machen sich bemerkbar. Die erhofften Sportflaschen von Vittel haben sie leider nicht, also nehme ich zwei Halbliter-Flaschen Powerade. Das hatte ich schon bei Trainingsfahrten getestet und für nicht ganz schlecht befunden. Die erste der beiden Flaschen kipp ich fast gänzlich hinter, noch ist der Inhalt warm. Durch Wittenberge geht es allein weiter, die Straße zum Elberadweg – Einstieg bei der Eisenbahnbrücke ist gesperrt und ich muß die Umleitung nehmen. Ich hatte gehofft, über den kürzeren Elberadweg die Gruppe vor mir einzuholen. Fünf Kilometer hinter Wittenberge gelingt das auch so, ca. 15 Leute machen eine Pause am Straßenrand. Sie sehen schon etwas angeschlagen aus und wir fahren gemeinsam weiter. Doppelreihe und stetiges Abwechseln an der Spitze kennen die nicht. Bei dem spürbaren Gegenwind von schräg links bringt die Einerreihe ab der dritten Reihe nichts. Das Tempo ist moderat, maximal 30. Zwölf Kilometer weiter halten wir an einer Tankstelle zum Trinkflaschen auffüllen. Hier kann ich endlich meine gewünschten Flaschen kaufen. Draußen wird mit der Notration Iso-Pulver aus dem Rucksack angerührt.

Vor der Tanke holen uns Christian und Niko ein. Die beiden waren in den Sturz verwickelt, der aufgrund einer Unachtsamkeit eines Dritten verursacht wurde. Sie schlossen sich der Gruppe an, die Disziplin wurde mit der Zeit auch etwas besser. Hinter Havelberg überholt uns das Team von Klaus und Wolf vom Hamburger Piraten-Verein. Die waren im Sommer auf den Nordcup-Radmarathons immer mit die Schnellsten, trotzdem schließen sich Christian, Niko und ich sich denen an. Der Rest der Gruppe läßt nach einigen Versuchen dran zu bleiben davon ab und wir hätten das auch besser tun sollen. Bis Rhinow – Streckenkilometer 205 – rasen wir mit den beiden und zwei anderen mit über 30 gegen den Wind mit. In Rhinow wollen Christian und Niko in den Dorfladen, einem wenn nicht dem klassischen freien Versorgungspunkt bei HH-B. Zu trinken hab ich genug und kauf nur eine Dose Cola und eine Banane. Sofort geht es durchgefroren auf die letzten achzig Kilometer. Meine Beine fühlen sich gar nicht gut an aber es gibt keine Alternative, als an den beiden dran zu bleiben. Allein würde sich das Leiden nur verlängern. Die Cola und ein (das zweite oder dritte) Powerbar-Gel zeigen keine Wirkung. Mit 29 bis 33 km / h stemmen wir uns gegen den Wind. Bei KM 250 machen wir einen Halt in einem Buswartehäuschen, ich mische noch eine Flasche Isotonisches an und trinke von der zweiten Flasche Powerade. Der Körper mag den ganzen Chemie-Dreck nicht mehr und ich habe Bock auf ein Weißbier und ein Wiener Schnitzel mit Pommes.

Hinter dem Dorf machen wir einen Pinkelstopp, Niko hält nicht an und fährt uns davon. Wir sehen noch, wie er in einen Betonplattenweg einbiegt und fahren hinterher, da er ein Navi mit aus dem Internet heruntergeladenem Track hat hoffen wir, daß es hier lang geht. Die Absätze zwischen den Platten holen einen fast vom Rad und wir kommen nur mit 15 km / h weiter. Fünf Kilometer weiter endet der Plattenweg und es beginnt ein unbefestigter Weg … schön, hätte ich nur das MTB genommen! Der unbefestigte Weg ist auch ein paar Kilometer lang, bis wir endlich auf Asphalt rauskommen. Ein paar Einheimische frage ich, in welchem Dorf wir sind … „Nauen, Ortsteil Waldsiedlung!“. Als Radreisender ziehe ich das Kartenblatt von der Region aus dem Camelbak und wir gucken, wie wir zum Ziel kommen. Die Beine funktionieren wieder, trotz des Offroad-Abenteuers haben wir sogar noch einen 30er Schnitt auf der Uhr. In der Zwischenzeit hat leichter Regen eingesetzt, ist aber nicht vergleichbar mit dem vor einem Jahr.

Bis Falkensee ist es nicht mehr weit, dann kommt – endlich das lang ersehnte Schild mit der Aufschrift „Berlin Bezirk Spandau“. Bis Gatow rollen wir gemütlich über die Radwege und Bürgersteige, einmal werde ich fast von einem Stadtbus überfahren, dann wieder von Fußgängern beinahe umgerannt.

Kurz vor halb sechs rollen wir auf den Hof des Wassersportheim Alt Gatow – endlich am Ziel. Mit Heißhunger werden von mir zwei Milchreis, mehrere Schnitten und Kleingebäck vernichtet, bevor es zum Duschen geht. Im Duschbereich hört man Stimmen von den „härtesten Bedingungen“, die es je bei HH-B gegeben hat.

Für die rund fünf Kilometer zum Bahnhof Berlin-Spandau benutzen wir einen Stadtbus, nach kurzer sinnloser Diskussion nimmt uns der Busfahrer sogar mit. Bei der Deutschen Bahn klappt es mit der Fahrradreservierung für den Eurocity, der aus Villach in Österreich über Prag und Dresden kommen soll und eine Viertelstunde Verspätung hat. Gegen 19:50 fahren wir ab und sind zwei Stunden später in Hamburg. Im Zug treffen wir einen Veteranen von P-B-P, der auch schon zehnmal (jedes Jahr) HH-B gefahren ist.

Vor dem Bahnhof Hamburg-Bergedorf werden wir von zwei Mädels angequatscht, sie verstehen nicht ganz, wie man ein Rennen von Hamburg nach Berlin über 285 Kilometer an einem Tag schaffen kann und glauben, wir wollen sie verarschen …

***

HH-B zwanzig-zehn Presseclipping:

Audax
http://www.audaxclub-sh.de/node/373
http://picasaweb.google.de/112003135634314700934/HamburgBerlin_2010

E-S-K
http://eisenschweinkader.org/archives/2010/10/17/zwobier-kaputt-ein-schlechtes-omen-oder-hh-b/
http://eisenschweinkader.org/archives/2010/10/18/zwobier-kaputt-zweiter-teil/
http://eisenschweinkader.org/archives/2010/10/18/hamburg-berlin-2010-in-bildern/

Helmuts
http://forum.helmuts-fahrrad-seiten.de/viewtopic.php?t=3368

St. Pauli
http://www.fcstpauli-radsport.de/index.php/news/120-zeitfahren-hamburg-berlin-2010

vonAscheberg
http://www.vonascheberg.de/wordpress/?p=575