Gegen 06:00 ist die Nacht vorbei. Unabhängig von der Qualität der Lagerstätte bzw. des Bettes ist der Schlaf auf 2.000 m und höher nicht besonders erholsam. Zur gleichen Zeit steigt hinter dem gegenüberliegenden Felsmassiv die Sonne empor. Aufstehen mit der Sonne und fernab jeglichen Zivilisationslärms ist etwas Großartiges. Das ist Urlaub.

Rifugio Val Viola (Detail)

Rifugio Val Viola (Detail)

Das Frühstück aus fluffigen Weißmehlbrötchen und portionierter Marmelade ist nicht die Welt, aber man wird in den Bergen anspruchslos. Ob der Kaffee aus Granulat aufgebrüht wurde oder die ganze Nacht auf der warmen Holzfeuerung gestanden hat ist für uns nicht zu erschließen, jedenfalls hat er einen sehr eigentümlichen Nachgeschmack, sehr rauchig, dieses Aroma schafft sicher keiner der trendigen Vollautomaten aus der westlichen Welt.

Die Morgen-Toilette müssen wir am Bach verrichten, da die jungen Damen ihrerseits im einzigen Waschraum länger brauchen, als uns zu warten lieb ist. Letztlich stammt das Wasser im Haus aus der gleichen Quelle.

Bis zum Passo Val Viola (2.528 m) sind es ab der Rifugio ca. 200 Hm. auf einem erst nach dem letzten Winter ausgebauten Fahrweg. Auf den Fotos im Buch sah der nicht so gut aus. Der Paß ist zugleich die Grenze zur Schweiz, der ausgebaute Weg endet hier und hinab ins Puschlav (Valposchiavo) geht es auf einem technisch schwierigen Trail, der jedoch größtenteils fahrbar ist. Ab der ALPE CAMPO (2.065 m) ist der Weg komplett fahrbar, da die Alm auch per Kfz. zu erreichen ist. Wir bleiben hier auf einen Kaffee und weil er schmeckt auf einen zweiten hinterher, dazu ein Stück Kuchen vom Vortag. Dabei beschließen wir, den heutigen Tag zu teilen, es wären 116 km und 2.500 Hm. Das Tagesziel der 5. Etappe wollen wir so am Abend des nächsten Tages erreichen und jetzt eine Pension oder ein Hotel in der Zivilisation suchen, um mal richtig zu duschen und alles auszuwaschen. Die kleinen Dörfer im Valposchiavo und an der Bernina-Bahnlinie bieten dazu nichts. Wir hatten erst das Bahnhofshotel in Campocologno im Auge (HOTEL ALBERGO STAZIONE), doch außer dem Bahnhof gibt es in dem Dorf nicht viel und wir fahren nach einem Pasta-Essen in dem Hotel weiter in die nächstgrößere Stadt Tirano im Tal der Adda. Theoretisch könnte man von Tirano aus flach an der Adda entlang fahren und käme in Colico am Comer See an.

Lago di Poschiavo (962 m)

Lago di Poschiavo (962 m)

Im Bahnhof von Tirano – das Gebäude kennen wir von 2007 – befindet sich die Touristeninfo. Wir buchen ein Zimmer in einer Pension vier Kilometer westlich des Stadtzentrums. Auf dem Weg dorthin machen wir einen LIDL ausfindig in dem wir nach Bezug des Zimmers paar Sachen einkaufen. Wasser aus Flaschen ist mal wieder eine willkommene Abwechslung zum Bachwasser im Gebirge. Duschgel brauchen wir auch, da jemand unser altes in der Sesvenna-Hütte ausgeborgt hat …

Zum Abendessen fahren wir nach dem Wäschewaschen in zivil ins Zentrum. Nahe dem Bahnhof befindet sich ein freundliches Restaurant. Wir sind zeitig und finden Platz, wenig später ist aber alles voll und die nachrückenden Gäste nehmen es in Kauf, bis zu zwanzig Minuten auf einen freiwerdenden Tisch zu warten. Seit DDR-Zeiten habe ich so was nicht erlebt. Ich genieße eine Pizza, einige Pfirsich-Saft mit Wasser, ein Tiramisù und einen großen Espresso, zu späterer Stunde einen Insalata Caprese und einen weiteren Espresso. Gegen Mitternacht, nach ausgiebiger Milieu-Studie des italienischen Abendlebens in einer mittelgroßen Stadt fahren wir im Lichtkegel meiner LED-Taschenlampe am Schlüsselbund zurück zur Unterkunft.

14.07.2010: 65,59 km | 3:54:50 h | 400 Hm